Beten in Zeiten der Gefahr (7)

Brief Dietrich Bonhoeffers vom 3. Juli 1943 an seine Eltern Karl und Paula Bonhoeffer



Liebe Eltern!  Wenn am Sonnabend abends um 6 Uhr die Glocken der Gefängniskirche zu läuten anfangen, dann ist das der schönste Augenblick, um nach Hause zu schreiben. Es ist merkwürdig, was für eine Gewalt die Glocken über den Menschen haben und wie eindringlich sie sein können. Es verbindet sich so vieles aus dem Leben mit ihnen. Alles Unzufriedene, Undankbare, Selbstsüchtige schwindet dahin. Es sind lauter gute Erinnerungen, von denen man auf einmal als von guten Geistern umgeben ist; als erstes sind es immer stille Sommerabende in Friedrichsbrunn, die mir gegenwärtig werden, dann all die verschiedenen Gemeinden, in denen ich gearbeitet habe, dann die vielen schönen, häuslichen Feste, Trauungen, Taufen, Konfirmationen – morgen wird mein Patenkind konfirmiert! – man kann gar nicht aufzählen, was da lebendig wird. Aber es können nur sehr friedliche, dankbare und zuversichtliche Gedanken sein. Wenn man nur anderen Menschen mehr helfen könnte.

Wenn ich diese Zeilen lese, dann fällt es schwer mir vorzustellen, wie Dietrich Bonhoeffer gerade in einer Gefängniszelle sitzt und diese Zeilen an seine Eltern verfasst.  

Allenfalls die Formulierung „Gewalt der Glocken“ lässt dunkel ahnen, welcher Gewalt er in dieser Zeit, in der er immer wieder zu Verhören gerufen wird, standhalten muss. Es steht in diesen Augenblicken ja nicht nur sein Leben auf dem Spiel. Durch eine ungeschickte Aussage könnte er jederzeit die „Mitverschwörer“ gefährden und dadurch auch seine und deren Familien in noch größere Mitleidenschaft ziehen.

Die „Gegen-Gewalt“ der Glocken führt den Häftling an diesem Sonntag aber hin zu friedlichen, dankbaren und zuversichtlichen Gedanken! „Alles Unzufriedene, Undankbare, Selbstsüchtige schwindet dahin“. Mit dem Klang der Glocken werden in ihm „lauter gute Erinnerungen“ lebendig. „Es verbindet sich so vieles aus dem Leben mit ihnen.“ Auf diese Kraft der Erinnerungen möchte ich am Freitag noch einmal eingehen.

Heute erinnere ich mich, wann ich den Klang von Glocken die ersten Male bewusst wahrgenommen habe und was das Geläute in mir ausgelöst hat.

Ich war vielleicht zwölf Jahre alt in den Sommerferien auf dem unterfränkischen Land bei der bäuerlichen Verwandtschaft. Ich war recht stolz, dass ich mithelfen durfte, denn dem „Städter“ traute man die schwere Arbeit auf dem Felde, im Stall und in der Scheune nicht so recht zu. Damals, Mitte der siebziger Jahre, war die landwirtschaftliche Arbeit meist noch mühsame „Handarbeit“. Die ganze Familie war eingespannt. Nach der Schule ging es erst einmal auf den Acker. Und in Ferien dann eben den ganzen Tag!

Und dort, auf dem Acker, hörte ich am Abend eines anstrengenden Tages in der Ferne von der Dorfkirche her die Glocken läuten. Ich bin sicherlich nicht auf die Idee gekommen, ein Vaterunser zu sprechen, geschweige denn an Gott zu denken, aber ich spürte dennoch etwas, was ich heute noch nicht so richtig benennen kann, so eine Art innerer Friede, der sich wohlig im ganzen Körper ausbreitete. Es war ein unvergleichliches Gefühl, dass ich bis dahin nicht gekannt hatte.
Die Freude auf den Feierabend kann es nicht gewesen sein, denn im Sommer war auf dem Land noch bis in die Nacht allerlei zu tun.

Das andere Mal war ich auf dem Weg zum Gottesdienst. Ich war Konfirmand und musste wahrscheinlich jeden Sonntag von meinen Eltern überredet werden hinzugehen. Ich gestehe, ich konnte keinerlei Verständnis dafür entwickeln, worum es beim Gottesdienst gehen sollte. Der Predigt konnte ich nicht folgen, mitsingen wollte ich nicht, also saß ich die Zeit einfach ab.

Erstaunlicherweise mochte ich aber den „Kirchgang“! Und ich mag ihn noch heute. Wann immer es möglich ist, gehe ich zu Fuß zur Kirche.

Über den Leiblsteg war ich noch alleine unterwegs. Dann sah ich von links von der Neustädterstraße ein paar Kirchgänger kommen. In der Emskirchenerstraße gesellte sich ein Mitkonfirmand dazu. In der Siegelsdorferstraße machten sich noch ein paar Leute mit auf den Weg, Schließlich wurde auf der Leyherstraße eine kleine „Pilgerschar“ aus den schlichten Fußgängern, denn spätestens hier hörte man die Glocken von der Erlöserkirche her zum Gottesdienst rufen.

Ich erinnere mich, wie ich genau dieses Gefühl hatte, dass die Glocken „uns“ rufen und aus uns – Menschen, die ich ja zum Teil gar nicht kannte – eine Gemeinschaft fügten. Ich fühlte mich auf diesem Weg mit den anderen verbunden. Und das war ein gutes Gefühl!

Als ich im Dezember letzten Jahres das erste Mal zu Fuß zur Erlöserkirche in den Gottesdienst ging, war auf der anderen Straßenseite ein Ehepaar in der gleichen Richtung unterwegs und rechts aus der Neustädterstraße kam eine Dame mit demselben Ziel. Es war fast „wie früher“.

Der Klang der Glocken ist mein Wegbegleiter geblieben, auch wenn man in der Großstadt die Ohren oft ziemlich spitzen muss, um sie im Verkehrslärm überhaupt noch hören zu können.

Ich freue mich, dass die Glocken noch „Gewalt“ über mich haben und in mir, inmitten der lärmigen Unrast der Stadt, den Klang eines tiefen inneren Friedens auszulösen vermögen.


Kommentare: 3
  • #3

    Gabi (Samstag, 20 Februar 2021 21:53)

    Ich mag es, wenn ich morgens Corona-Joggen gehe und um 7:00 läuten die Glocken - es verbindet die Gemeinde, auch wenn man sich nicht sehen kann.

  • #2

    Karola Glenk (Mittwoch, 17 Februar 2021 00:42)

    Mir geht das mit den Glocken auch so! Wenn ich im Stadtpark unterwegs bin, höre ich häufiger die Glocken der Reformations-Gedächtnis-Kirche! Das ist noch nicht meine Kirche, aber ich höre das läuten, spitze die Ohren und bin ganz wach!
    Ich erinnere mich, als wir meinen Bruder zu Grabe getragen haben, am Südfriedhof, trugen meine Brüder die Urne und ich ging unter Glockenläuten mit. Das war tröstlich!

  • #1

    I. Wagner (Mittwoch, 10 Februar 2021 09:29)


    Der Klang der Kirchenglocken bleibt ein zuverlässiger Ruf der wohltuenden, auf den Tag einstimmenden, ihn zur Mittagszeit unterbrechenden und den Tag sozusagen abrundenden Art, wenn er ans Innehalten und zur Dankbarkeit erinnert. Und wenn das Geläut zu anderen Zeiten erklingt, weiß der Aufmerksame, dass ein besonderes Ereignis ansteht: ein erfreuliches oder auch eines, das zum Nachdenken über die endliche Zeit, die in SEINEN Händen steht ...