Beten in Zeiten der Gefahr (11)

Brief Dietrich Bonhoeffers vom 9. November 1943 an seine Eltern Karl und Paula Bonhoeffer



Dietrich Bonhoeffer liest (erstaunlich) viel, nicht nur täglich in der Bibel. Es gibt kaum einen Brief, in dem nicht von Büchern die Rede wäre.

Sein Tagesablauf besteht vorwiegend aus Lesen und Schreiben: „Morgens nach dem Frühstück, also ab 7 Uhr ungefähr, treibe ich Theologie, dann schreibe ich bis Mittag, nachmittags lese ich, dann kommt ein Kapitel aus der Weltgeschichte von Delbrück, etwas englische Grammatik, aus der ich noch allerlei lernen kann und schließlich, je nach der Verfassung, schreibe oder lese ich wieder. Abends bin ich dann müde genug, um mich gern hinzulegen, wenn auch nicht zu schlafen.“ (13.10.43)

Einen Teil seines Lesestoffes findet Dietrich Bonhoeffer anfangs in der Gefängnisbibliothek, wie er den Eltern in seinem ersten Brief berichtet. In seinem zweiten Schreiben bittet er, neben Dingen für den alltäglichen Gebrauch, ihm bestimmte Bücher zuzusenden. Neben der Fachliteratur befindet sich darunter vor allem deutsche Literatur aus dem 19. Jahrhundert.

Diese Auswahl begründet er seinen Eltern (24.7.43) gegenüber so: „Ich lebe mit meiner Lektüre ja jetzt ganz im 19. Jahrhundert. Gotthelf, Stifter, Immermann, Fontane, Keller habe ich in diesen Monaten mit neuer Bewunderung gelesen. Eine Zeit, in der man ein so klares einfaches Deutsch schreiben konnte, muss im Grunde eine sehr gesunde Substanz gehabt haben. Bei den zartesten Dingen wird man nicht sentimental, bei den kräftigsten nicht frivol, bei der Aussprache von Überzeugungen nicht pathetisch, keine übertriebene Simplifizierung und Komplizierung in Sprache und Gegenstand – kurz, das alles ist mir äußerst sympathisch und scheint mir sehr gesund zu sein. Aber es setzt wohl viel ernste Arbeit am deutschen Ausdruck und darum viel Stille voraus.“ Im Gegensatz zur lauten nationalsozialistischen Propaganda, ergänze ich für mich den Satz.

Dietrich Bonhoeffer bittet seine Eltern nicht nur ihm Bücher zu besorgen, oder berichtet von seinen Leseeindrücken, sondern schlägt ihnen auch Lektüre vor: „Ihr müsst übrigens wirklich den „Berner Geist“ von ihm (i.e. Jeremias Gotthelf) lesen, und wenn nicht ganz, so doch damit anfangen; es ist etwas Besonders und interessiert Euch sicher!“ (15.4.43)

Tatsächlich beginnen die Eltern die empfohlene Lektüre, so wie sie sich im weiteren Briefwechsel öfter über ihre Leseerfahrungen austauschen. Manchmal lesen sie sogar gleichzeitig dasselbe Buch, wie ihr Sohn in der Zelle: „Wir haben aber den `Berner Geist und Zeitgeist´ jetzt angefangen zu lesen, und er hat uns wirklich interessiert, und die Probleme verfolgen einen wirklich.“ (Paula Bonhoeffer am 25.5.43)

Aber nicht nur mit seinen Eltern, auch mit seiner Verlobten Maria von Wedemeyer, oder mit Eberhard Bethge verbindet ihn eine Art Lektüregemeinschaft. So schreibt er in seinem ersten aus dem Gefängnis geschmuggelten Brief an den Freund: „Und nun die Lektüre. Ja, Eberhard, dass wir Stifter nicht gemeinsam kennengelernt haben, bereue ich sehr. Das hätte unsere Gespräche sehr gefördert. Das muss nun auf später verschoben werden. Aber ich habe Dir darüber viel zu erzählen!

Dietrich Bonhoeffer liest nicht nur für sich selbst, er teilt seine Leseeindrücke gerne anderen mit, um mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen. Unterhaltung, Zerstreuung oder Ablenkung ist es nicht, was ihm die vorrangige Freude bereitet, sondern im Gegenteil Sammlung und Vertiefung. Er nimmt beinahe eine meditative Lesehaltung ein: „Fast täglich lese ich etwas Stifter; das geborgene und verborgene Leben seiner Gestalten – er ist ja so altmodisch, nur sympathische Menschen zu schildern – hat in dieser Atmosphäre hier etwas sehr Wohltuendes und lenkt die Gedanken auf die wesentlichen Lebensinhalte. Überhaupt wird man hier in der Zelle äußerlich und innerlich auf die einfachsten Dinge des Lebens zurückgeführt.

Obwohl ich selbst ein begeisterter Leser bin und mich immer wieder mit anderen Menschen über Gelesenes austausche, so habe ich doch nie zur gleichen Zeit mit einem vertrauten Menschen intensiv dasselbe Buch gelesen!

Warum eigentlich nicht? Liegt es an den unterschiedlichen Vorlieben? Oder an ganz anderen Lesegewohnheiten? Leben wir in unserem Arbeitstag in so unterschiedlichen Zeitrhythmen, dass eine gemeinsame Lektüre nicht mehr möglich wäre? Und wie am besten darüber austauschen? Sich regelmäßig treffen? Übers Telefon? Per Brief? Per mail?

Dietrich Bonhoeffer erwähnt Adalbert Stifter beinahe 30mal in seinen Briefen. Einige der Bücher scheint er mehrere Mal gelesen zu haben. Im Gefängnis wagt er sich noch einmal an „den Witiko“ und schreibt: „Mit seinen 1000 Seiten, die man nicht überfliegen kann, sondern mit viel Ruhe lesen muss, wird er wohl heute nicht mehr allzu vielen Menschen zugänglich sein, ich weiß daher nicht, ob ich ihn Euch empfehlen soll. Für mich gehört er zu den schönsten Büchern, die ich überhaupt kenne“.

Ich kann mich erinnern, dass ich schon zweimal an dem nicht ganz so dicken „Nachsommer“ gescheitert bin, wahrscheinlich gerade deswegen, weil ich nicht in der Lage war, ein Buch „mit viel Ruhe zu lesen“.  Ich bin eher ein (Zu-)Schnellleser, der auch gerne mal ein paar Seiten nur überfliegt oder weiter blättert.

Aber vielleicht versuche ich es noch einmal? Aber dann mit dem wesentlich „dünneren“ „Waldgänger“. Und ob es mal klappt, dass ich einen Roman mit jemand anderen lesen und besprechen werde? Es muss ja nicht aus dem 19. Jahrhundert stammen!


Kommentare: 1
  • #1

    S. Osterkamp (Dienstag, 23 Februar 2021 14:34)

    Die Betrachtung hat mich auch zum Grübeln gebracht. Muß man eigentlich zum "Nichtstun" verurteilt werden? 1955 schenkte mir meine Mutter "Grimms Märchen 3 Bände in einem Buch" ( 1070 Seiten) Ich erinnere mich noch sehr gut; ich war kaum zu bremsen, ich las und las und behielt auch die meisten Inhalte bis heute in meinem Gedächtnis. Als Erwachsener hatte ich nicht mehr die Zeit und jetzt? Ich bin auch so einer, der gerne den Anfang und das Ende liest; wenn überhaupt. Aber "lieber spät als nie" .........