Beten in Zeiten der Gefahr (14)

Brief Dietrich Bonhoeffers vom 21. November 1943 an seinen Freund Eberhard Bethge



Nachdem Dietrich Bonhoeffer den Brief vom 18. November mit den Grüßen an Eberhard und Renate Bethge abschlossen hat, setzt er, als er das Geschriebene durchsieht, neu an. Er reagiert auf die von Eberhard Bethge geschilderten Lebensumstände, der zur militärischen Ausbildung nach Lissa in Polen beordert wird.

Dann wechselt Dietrich Bonhoeffer ziemlich unvermittelt – und wie ich empfinde, sehr vehement - das Thema: „Ich finde hier – und ich denke auch Du – das Aufwachen am Morgen innerlich am schwersten. (Jer 31,26!) Ich bete jetzt ganz einfach um die Freiheit. Es gibt auch eine falsche Gelassenheit, die gar nicht christlich ist. Über etwas Ungeduld, Sehnsucht, Widerspruch gegen das Unnatürliche und eine ganze Portion Verlangen nach Freiheit und irdischem Glück und Wirken können, brauchen wir uns als Christen durchaus nicht zu schämen. Darin sind wir uns, glaube ich, auch ganz einig.

Zunächst fällt mir auf, dass ich solche Passagen in ihrem Ernst erst jetzt richtig bewusst wahrnehme, nachdem ich einen Teil der Briefe bestimmt mehr als dutzendmal sorgfältig durchgelesen habe. Wie viele „Zwischentöne“ sind mir wahrscheinlich dennoch entgangen! Was habe ich nicht alles überlesen, weil ich mir über die Jahre hinweg ein bestimmtes Bild von Dietrich Bonhoeffer gemacht habe?

Warum überrascht mich, hier zu lesen, dass es auch Dietrich Bonhoeffer, nach acht Monaten im Gefängnis, schwer fällt morgens aufzustehen? Warum überrascht es mich, von ihm zu erfahren, dass er schon längst ungeduldig darauf wartet, endlich wieder in Freiheit leben zu können?  
Mir scheint jedoch, dass Dietrich Bonhoeffer von dieser Bitte um Freiheit zunächst selbst überrascht gewesen ist. Vielleicht die Folge eines spontanen Gefühlsausbruchs? Und jetzt kommt ihm das Gebet um Gelassenheit, um die er bisher gebeten hatte, falsch vor, wie eine Einwilligung in ein Schicksal, gegen das eigentlich mit allen Kräften, auch den Gebetskräften, angekämpft werden müsste!

Die Formulierung „…bauchen wir uns als Christen durchaus nicht zu schämen“, zeigt mir, dass Dietrich Bonhoeffer mit sich ringen musste, um diese Gebetsbitte für sich zulassen zu und vor Gott offen aussprechen zu können. Und jetzt kann er sie auch vor seinem Freund zur Sprache bringen.

„Rebellische Gebete“, sind in der Tat in der christlichen Tradition selten zu finden. Gebete, die vor Ungeduld platzen, die nicht mehr warten wollen auf bessere Zeiten, die jetzt endlich etwas erfahren wollen von dem Reich Gottes, das uns durch Jesus Christus nahegekommen sein soll!

Ungeduldige Gebete, ungehaltene Gebete, sie fehlen im christlichen Wortwechsel mit Gott und auch unter uns. Ergeben wir uns zu schnell in den vermeintlichen Willen Gottes? Sind wir Christen zu sanftmütig? Dietrich Bonhoeffer: „Ich denke manchmal, ich bin über die ganze Sache nicht wütend genug!

Wenigstens ein ungeduldiges Kirchenlied aus unserem Gesangbuch fällt mir ein! Ob es noch mehr davon gibt? Es stammt von dem Jesuiten Friedrich Spee von Langenfeld. Gegen viele Widerstände – auch aus seinem eigenen Orden - hat er sich vehement gegen die Hexenverfolgung und Folter eingesetzt. Gestorben ist er bereits mit 44 Jahren, als er sich bei der Pflege verwundeter und pestkranker Soldaten selbst infiziert hatte. Wie viele Pfleger*innen haben sich inzwischen am Covid19-Virus infiziert?  Wie viele haben ihr Leben gelassen?

Es geht mir immer ein Ruck durch alle Glieder, wenn in den Adventsgottesdiensten die erste Strophe seines bekanntesten Liedes erklingt: „O Heiland, reiß die Himmel auf, / herab, herab vom Himmel lauf, / reiß ab vom Himmel Tor und Tür, / wo Schloß und Riegel für.

Was singen wir da eigentlich für ein Lied! Was für eine ungeheure Forderung geht da über unsere sonst so schicksalsfrommen Lippen! „O Heiland, reiß den Himmel auf!“ Mach jetzt endlich was! Lass uns nicht länger leiden! Es ist allerhöchste Zeit! Himmel und Erde sollen nicht länger voneinander getrennt sein! Wir sehnen uns nach Heilung nach Erlösung, nach Befreiung! Jetzt!

Lesen Sie aufmerksam sämtliche Strophen dieses Liedes! Wer kann danach noch stillsitzen und die Hände in den Schoß legen? Hatte Dietrich Bonhoeffer, der ja täglich mit dem Gesangbuch still für sich in der Zelle sang, bei dieser Einsicht auch seinen „Gesinnungsgenossen“ Friedrich Spee im Sinn? „Es gibt auch eine falsche Gelassenheit, die gar nicht christlich ist.

Dietrich Bonhoeffer kennt seine „Schwäche“, wie er in diesem Brief gesteht: „Ich habe hier schon ein paar Mal Leute, die sich nur die geringste Unerzogenheit erlaubten ganz kolossal angepfiffen, so dass sie ganz verdutzt und von da an völlig in Ordnung waren. Das macht mir dann richtig Spaß, aber ich bin mir darüber klar, dass es eigentlich eine ganz unmögliche Empfindlichkeit ist, über die ich kaum hinwegkomme.“ …

„Ganz wild kann ich werden, wenn ich hier erlebe, dass völlig wehrlose Leute ungerecht angebrüllt und beschimpft werden. Diese kleinen Quälgeister der Menschen, die sich dabei austoben können, und die es überall gibt, können mich noch stundenlang in Aufregung versetzen. Ich glaube, Du findest in diesen Dingen ein besseres Gleichmaß.

Evangelisches Gesangbuch Nr. 7 / Gotteslob Nr. 231

Walter Rupp: Friedrich Spee. Dichter und Kämpfer gegen den Hexenwahn (Topos plus)


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