Beten in Zeiten der Gefahr (16)

Brief Dietrich Bonhoeffers vom 26. November 1943 an seinen Freund Eberhard Bethge


Als ich herauf in meine Zelle kam, lief ich eine Stunde lang nur auf und ab, das Essen stand da und wurde kalt, und ich musste schließlich über mich selbst lachen, wie ich mich dabei ertappte, dass ich von Zeit zu Zeit ganz stereotyp vor mich hinsagte. `das war wirklich schön´

Das ist wirklich schön, solche Zeilen zu lesen!  Sich, sie mehrmals lesend, in die beschriebene Szene hinein zu versetzen, in diese „unbeschreibliche Freude“, wie Dietrich Bonhoeffer, sich selbst analysierend, seine Empfindungen über den vormittäglichen Besuch bezeichnet: „Ich habe immer intellektuelle Hemmungen, wenn ich das Wort `unbeschreiblich´ für etwas verwende; denn wenn man sich etwas Mühe gibt und die nötige Klarheit erzwingt, dann gibt es m.E. nur wenig `Unbeschreibliches´; aber im Augenblick scheint mir der heutige Vormittag dazugehören.

Auch am Abend als er diese Zeilen verfasst, kann Dietrich Bonhoeffer es kaum fassen, dass heute nicht nur seine Eltern, sowie seine Verlobte Maria, die nun schon einige Male die Besuchserlaubnis bekam, sondern auch der langersehnte Freund Eberhard Bethge mit im gleichen Raum saßen. Mit seiner ganzen Intensität, mit allen Sinnen, nimmt Dietrich Bonhoeffer diesen „Augenblick“ in sich auf.

Es ist also wirklich dazu gekommen, - wenn auch nur für einen Augenblick; aber das ist nicht so wichtig; auch ein paar Stunden wären ja viel zu wenig, und man wird hier in der Abgeschlossenheit so aufnahmefähig, dass man auch von ein paar Minuten lange zehren kann. Dieses Bild – die vier Menschen, die mir in meinem Leben am nächsten stehen, einen Augenblick um mich gehabt zu haben – das wird mich nun lange begleiten.

Ich weiß nicht, auf welche Zeitdauer die Sprecherlaubnis bemessen gewesen war, – eine Stunde oder nur eine halbe oder tatsächlich nur ein paar Minuten? – mich überrascht, dass hier Dietrich Bonhoeffer diese Begegnung gleich zwei bzw. dreimal innerhalb weniger Zeilen als einen „Augenblick“ bezeichnet! Im Verhältnis zu der langen Haftdauer mag diese Einschätzung ohne Zweifel zutreffen.

Bewegende Erlebnisse im Leben erscheinen mir oft, als wären sie im Flug vergangen. Im Nu war´s vorbei. Ich hatte kaum die Gelegenheit die Fülle dieses „Augenblicks“ wahrzunehmen, aufzunehmen, mir bewusst zu machen. Eine kurze Zeit nur, aber ich habe das Gefühl, es hat sich unheimlich viel ereignet, so viel, dass ich es nicht erfassen kann, wie oft ich mich danach in diesen „Augenblick“ auch zurückversetzen – und ihn noch einmal genießen – mag.

Diese Fassungslosigkeit – oder sollte man sagen dieses Glück? – ist den Zeilen Dietrich Bonhoeffers abzuspüren: „Als ich heraufkam in meine Zelle, lief ich eine Stunde lang nur auf und ab, …

Andererseits erscheinen mir diese „Augenblicke“ manchmal seltsam zeitlos, als wäre der Zeitverlauf, wie wir ihn mit einer Stoppuhr festhalten können, aufgehoben, als gäbe es zeitweise keine Zeit oder als wäre einen „Augenblick“ lang, so etwas wie Ewigkeit erfahrbar geworden. Festhalten, was oft der Wunsch ist, lassen sich solche Augenblicke nicht, sie bleiben flüchtig. In dem Moment, in dem wir auf den Auslöser der Handykamera drücken, ist das ganze Glück der aufgehobenen Zeit verflogen.

Ich würde mir jetzt am liebsten gleich eine Auszeit nehmen, um den zeitlosen „Augenblicken“ meines Lebens nachzusinnen. Wann, wo und mit wem, habe ich solche „unbeschreiblichen Augenblicke“ erlebt? Doch die Zeit drängt, meint meine to-do-Liste. Es gibt noch einiges zu erledigen bis zum Feierabend. Vielleicht kann ich wenigstens heute Abend zu mir sagen: „Werd' ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! …“

Doch damit noch nicht genug. Noch ein anderer – sehr kurzer – Augenblick hat Dietrich Bonhoeffer gleich zu Beginn der Besuchszeit bewegt und beglückt! Es war ihm sehr wichtig, das festzustellen und seinem Freund mitzuteilen: „Ich glaube, es hat einen Augenblick genügt, um uns beiden klarzumachen, dass alles, was in den vergangenen 7 ½ Monaten vorgefallen ist, uns beide im Wesentlichen unverändert gelassen hat, … Das ist der Vorteil, wenn man 8 Jahre lang fast jeden Tag, jedes Ereignis miteinander erlebt, jeden Gedanken miteinander besprochen hat. Da braucht man nur eine Sekunde, um übereinander Bescheid zu wissen, und eigentlich braucht man nicht einmal mehr diese Sekunde.

Hier beginnt jedoch schon eine andere Geschichte: Die Geschichte einer engen Freundschaft. Jahrzehntelang wurde Eberhard Bethge von unzähligen Menschen gebeten diese Geschichte zu erzählen. Schließlich wurde daraus ein sehr dickes Buch, bis heute die grundlegende Biographie Dietrich Bonhoeffers.
Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Theologe - Christ - Zeitgenosse. Eine Biographie. (Gütersloher Verlagshaus)


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