Beten in Zeiten der Gefahr (18)

Brief Dietrich Bonhoeffers vom 15. Dezember 1943 an seinen Freund Eberhard Bethge



Seit gut einem Monat kann sich Dietrich Bonhoeffer wenigstens brieflich mit seinem Freund austauschen. Die Briefe müssen unter großer Gefahr ins Gefängnis rein oder raus geschmuggelt werden und demnächst bis nach Italien gelangen. In wenigen Tagen wird Eberhard Bethge mit seiner Truppe in die Emilia-Romagna verlegt. Die Soldaten sollen die deutschen Linien gegen die vorrückenden englischen Einheiten verteidigen, den unaufhaltsamen Rückzug so lange wie möglich verzögern.

Seitenlang schreibt sich Dietrich Bonhoeffer die aufgestauten Gedanken und Gefühle von der Seele. Endlich kann er sich wieder ungeschützt mitteilen. Die Erleichterung ist offensichtlich: „Ich war eben so völlig daran gewöhnt, alles mit Dir auszutauschen, dass eine so plötzliche und lange Unterbrechung eine tiefe Umstellung und eine große Entbehrung bedeutete. Nun sind wir wenigstens wieder im Gespräch und ich lese Deinen guten, warmherzigen Brief immer wieder.

Aufmerksam wendet er sich dem Freund zu, versetzt sich in dessen Lage und scheut sich nicht, angesichts der winterlichen Jahreszeit, praktische Ratschläge zu erteilen, wie: „Besonders warme Strümpfe wirst Du brauchen“. Im nächsten Satz aber gleich die unscheinbare Vergewisserung: „Die Adressen von Marianne und Georg hast Du ja“.

Marianne ist die Tochter von Dietrich Bonhoeffers Zwillingsschwester Sabine, die mit ihrem Mann Gerhard Leibholz, wegen dessen jüdischer Herkunft, 1938 nach England fliehen musste. Mit Georg ist George Bell, der Bischof von Chichester gemeint. Zu ihm hatte Dietrich Bonhoeffer während seines Englandaufenthaltes eine dienstliche und bald auch freundschaftliche Beziehung gepflegt.

Dorthin, so meinte Dietrich Bonhoeffer, sollte sich Eberhard Bethge wenden, falls er in englische Gefangenschaft geraten sollte und Unterstützung bräuchte. Man merkt an der verkürzten Namensnennung, dieser Brief wurde in dem Bewusstsein geschrieben, dass er abgefangen werden könnte. Der direkte Hinweis auf den englischen Bischof könnte ihn und Eberhard Bethge in Lebensgefahr bringen.
 
Beistand bräuchte Dietrich Bonhoeffer jetzt jedoch selbst. Die lange Haftzeit belastet ihn zunehmend. Jetzt im Dezember kann er nur kurz andeuten, worüber er dringend mit Eberhard Bethge sprechen müsste: „Und schließlich würde ich anfangen, Dir zu erzählen, z.B. dass es trotz allem, was ich geschrieben habe, hier scheußlich ist, dass mich die grauenhaften Eindrücke oft bis in die Nacht verfolgen und dass ich sie nur durch Aufsagen unzähliger Liederverse verwinden kann und dass dann das Aufwachen manchmal mit einem Seufzer statt mit einem Lob Gottes beginnt. An die physischen Entbehrungen gewöhnt man sich, ja man lebt monatelang sozusagen leiblos – fast zu sehr -, an die psychischen Belastungen gewöhnt man sich nicht, im Gegenteil: ich habe das Gefühl, ich werde durch das, was ich sehe und höre, um Jahre älter und die Welt wird mir oft zum Ekel und zur Last.“  Deutliche Worte, das ist Klartext!

Ich erinnere mich an eine kleine Adventsfeier der Jugendgruppe. Wir saßen still im Kerzenschein eines Adventskranzes im Turmzimmer. Plätzchen auf dem Tisch. Jemand hat die Weihnachtsgeschichte vorgelesen, der Jugenddiakon eine nachdenklich machende Betrachtung. Dann stand die Frage im Raum: Wollen und können wir miteinander singen?

Nach verlegenem Gemurmel wagte es der Diakon ein bekanntes Adventslied anzustimmen. Aus den schüchternen und brummelnden Stimmen erhob sich plötzlich der glasklare Gesang eines Mädchens, die den Text zudem ohne Mühe auswendig vortragen konnte. Wir waren alle, wie gebannt! Niemand hatte geahnt, dass unter uns jemand so schön singen konnte. Ermutigt trug das Mädchen weitere Lieder vor. Vor Erstaunen konnten wir uns kaum fassen.

Ich habe ihre Geschichte nicht mehr genau im Kopf. Sie war wohl viel alleine oder bei ihrer Großmutter, mit die mit ihr oft Lieder aus dem Gesangbuch gesungen hatte. Wenn Sie nachts im Bett lag, und niemand zu Hause war, verspürte sie große Angst. Dann nahm sie das Gesangbuch und fing zu singen an.

Ich glaube, wir waren alle den Tränen nahe, als wir miteinander, durch diese schöne Stimme getragen, noch weitere Lieder anstimmten. Ich habe mich oft gefragt, wie viel Angst dieses Mädchen alleine aushalten musste. Sie kannte noch viele Lieder mit vielen Strophen auswendig. So konnte sie wenigstens ihre Angst aushalten und irgendwann noch einschlafen.

In dieser Zeit entdeckte ich in der Bibel die Psalmen. Vieles davon verstand ich nicht, manches ist mir bis heute ein Rätsel. Aber ich entdeckte dort für mich eine neue Sprache. Eine neue Art mit Gott zu reden. Die Beter*innen scheuen sich nicht Gott zu klagen, ja, ihn sogar anzuklagen Sie beschweren sich nicht nur bei ihm, sondern unmissverständlich auch über ihn. Sie bedrängen Gott mir ihren Anliegen, sie schreien ihre Wut, Angst und Verzweiflung hinaus. Sie bestehen darauf, dass Gott in ihr Leben rettend eingreift. Sofort!

So hatte ich bisher nicht zu beten gewagt. Meine Gebete waren „anständig“ und höflich formuliert, meine Anliegen bescheiden. Ich bete immer noch sehr zurückhaltend, aber manchmal helfen mir die Psalmen, vor Gott das auszusprechen, was mich in meinem Innersten umtreibt und das dann auch in deutlichen Worten. Psalm 69 hat mich da am tiefsten beeindruckt: „Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefen Schlamm, wo kein Grund ist …“


Kommentare: 3
  • #3

    Inge Wagner (Mittwoch, 31 März 2021 18:12)

    Dieser 23. Psalm begleitete meinen Vater sein Leben lang. Mit meiner Mutti, die an ALS litt, betete er ihn oft bis zu ihrem Tod. Als er selbst 92-jährig nach längerer Pflegezeit starb, fanden wir einen handgeschriebenen Hinweis, dieser Psalm möge bei seinem Begräbnis gebetet werden.
    Auch mir geht es so, dass ich ihn überaus tröstlich finde, wenn dunkle Gedanken kommen.

  • #2

    Karola Glenk (Sonntag, 21 März 2021 08:23)

    Danke für Ihren Beitrag, liebe Frau Wagner!
    Mit den Psalmen ging es mir ähnlich. Ich erlebte am Krankenbett als Klinikseelsorgerin, wie gerade z.B. der 23. Psalm als Stütze erlebt wurde, wo ich selbst nur ratlos daneben stand.
    Das kann ich mir im Religionsunterricht auch vorstellen. Allerdings habe ich in der Grundschule den 23. Psalm lernen lassen, dort habe ich das nicht erlebt!

  • #1

    Inge Wagner (Samstag, 20 März 2021 18:58)

    Mir ging es mit den Psalmen ebenso. Nachdem ich ja 40 Jahre an der Hauptschule u.a. auch Religionslehre unterrichtete, hatte ich lange eine Scheu. Aber bei den Abschlussklassen nahm ich doch den einen oder anderen auf, der nicht im Lehrplan genannt wurde - und erlebte, dass die oft schwierigen pubertierenden Schüler sich nicht nur angesprochen, sondern verstanden fühlten. Das war eindrucksvoll ... Und es wich auch ein wenig vom damals noch umfangreicheren Lernstoff des Konfi-Unterrichts ab, der sie wohl oft nervte oder langweilte.
    Danke für die Anregungen, die Ihre Beiträge geben!