Beten in Zeiten der Gefahr (20)

Brief Dietrich Bonhoeffers vom 18. Dezember 1943 an seinen Freund Eberhard Bethge



Die Hoffnung Dietrich Bonhoeffers vor dem Weihnachtsfest durch einen Freispruch in der für den 18. Dezember anberaumten Gerichtsverhandlung aus der Haftanstalt Tegel entlassen zu werden, wurde bitter enttäuscht. Nicht zum ersten Mal. Mehrfach wurde der Termin verschoben. Es fällt ihm sichtlich schwer mit den enttäuschten Erwartungen umzugehen.

Die Verschiebung des Prozesses bedeutet, dass Dietrich Bonhoeffer weiterhin von seinen „Lieblingsmenschen“ getrennt bleiben wird. Das ist die Tatsache mit der sich unausweichlich, aber nicht zum ersten Mal, konfrontiert sieht. „Ich habe ein paar Mal in meinem Leben das Heimweh kennengelernt; es gibt keinen schlimmeren Schmerz, und ich habe in den Monaten hier im Gefängnis ein paar Mal ganz schreckliche Sehnsucht gehabt.

Mich beeindruckt, wie offen Dietrich Bonhoeffer diesen Schmerz gegenüber Eberhard Bethge ausspricht: „Nach meinen Erfahrungen gibt es nichts Quälenderes als die Sehnsucht.“  

Diese Sehnsucht zu empfinden, und sie nicht zu unterdrücken oder zu betäuben, bedeutet Dietrich Bonhoeffer offenbar sehr viel. Er erkennt in dieser Sehnsucht, gerade in ihrem Schmerz, eine besondere Qualität der Beziehung zu den geliebten Menschen. Der vermisste Mensch ist durch niemand anderen zu ersetzen. Es gilt die Trennung auszuhalten: „Wir müssen einfach warten und warten, wir müssen an der Trennung unsäglich leiden, wir müssen Sehnsucht empfinden fast bis zum Krankwerden – und nur dadurch halten wir die Gemeinschaft mit den Menschen, die wir lieben, aufrecht, wenn auch auf eine sehr schmerzhafte Weise.

Ich gebe zu, dass ich diese Briefabschnitte mehrmals lesen musste, so ungewöhnlich erschien mir die Gedankenführung. Aber sobald ich das Wörtchen Sehnsucht durch Liebe ersetze, lese ich, wie Dietrich Bonhoeffer auf seine „verkopfte“ und „absolute“ Weise von seiner leidenschaftlichen Liebe zu seiner Familie, seinen vertrauten Freunden, zu seiner Verlobten Maria, schreibt.

Aus dieser Sicht kann ich verstehen, wenn er – wieder ziemlich abstrakt - weiterschreibt: „Es ist nichts verkehrter, als den Versuch zu machen, in solchen Zeiten sich irgendeinen Ersatz für das Unerreichbare zu schaffen. Es gelingt doch nicht und eine nur noch größere Unordnung tritt ein: Die Kraft aber, die Spannung zu überwinden, die doch nur aus der vollen Konzentration auf den Gegenstand der Sehnsucht entspringen kann, wird angefressen und das Durchhalten noch unerträglicher.

Wenn ich solche Sätze lese, dann muss ich mir vor Augen halten, wie die beiden Freunde über Jahre hinweg, sich am Abend zusammensetzen, natürlich auch um es sich einmal gut gehen zu lassen, ein Gläschen zu trinken, oder miteinander zu musizieren. Sie waren es gewohnt alles, was tagsüber geschah noch einmal miteinander zu überdenken, zu hinterfragen, auf einen „vernünftigen“ Begriff zu bringen, Zwei Menschen, die verstehen wollten, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und wie „das alles“ mit unseren Vorstellungen von Gott zusammenhängt.

Für meine Ohren klingen lange Passagen der Briefe an Eberhard Bethge sehr „abgehoben“ und mitunter, trotz der leidenschaftlichen Sprache, auch distanziert. Weil sich die beiden so gut kennen, müssen sie nicht jeden Gedanken ausformulieren. Der andere kann die „Gedanken lesen“, während ich rätsele, wie es gemeint sein könnte.

Näher kommt mir Dietrich Bonhoeffer, wenn er beschreibt, mit welchen „Maßnahmen“ er diese leidenschaftliche Spannung, den Schmerz der Trennung, auszuhalten versucht.

Die erste Folge dieser Sehnsuchtszeiten ist immer, dass man den normalen Tagesablauf irgendwie vernachlässigen möchte, dass also eine gewisse Unordnung in unser Leben kommen will. Ich war manchmal in der Versuchung, morgens einfach um 6 Uhr aufzustehen wie üblich. …, sondern länger zu schlafen. Ich habe mich bisher immer noch zwingen können, das nicht zu tun; es war mir klar, dass das der Anfang der Kapitulation gewesen wäre, dem vermutlich Schlimmeres gefolgt wäre, und aus der äußeren rein körperlichen Ordnung (morgendliches Turnen, Kaltabwaschungen) geht schon etwas Halt für die innerer Ordnung aus.

Ähnliches habe ich von vielen Menschen gehört, die – meist, weil ein Partner verstorben ist – seit Jahren alleine leben. Sie haben sich eine bestimmte Disziplin angewöhnen müssen, „um sich nicht aufzugeben“. Der Halt, den der Partner geben konnte, der fehlt und ist nicht zu ersetzen. So ähnlich hat meine Oma ihren Tagesbeginn gestaltet. Mehr als fünfundzwanzig Jahre ist sie keinen Tag von ihrer „Morgenroutine“ abgewichen.

Dazu fällt mir „mein“ Trauspruch ein, der genau diesen Halt klar und nüchtern zum Ausdruck bringt: „So ist es ja besser zu zweit als allein. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Auch, wenn zwei bei einander liegen, wärmen sie sich. Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei." (Prediger 4,9-12).


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