Beten in Zeiten der Gefahr (4)

Brief Dietrich Bonhoeffers vom 25. April 1943 an seine Eltern Karl und Paula Bonhoeffer


Schon nach Dietrich Bonhoeffers erstem Satz muss ich innehalten: „Heute ist endlich der 10.Tag wieder da, an dem ich Euch schreiben darf, und wie gern würde ich euch wissen lassen, dass ich auch hier ein frohes Ostern feiere.

Zehn Tage warten müssen, bis ich eine Nachricht versenden darf, eine einzige Nachricht an einen ausgewählten Adressaten!
Das sind Zeiträume, die heute kaum noch vorstellbar sind.

Gut, unsere ältere Tochter lässt uns manchmal ein paar Tage auf ihre Antwort warten, aber unsere jüngere würde es wohl halb in den Wahnsinn treiben, wenn ihr Handy so eingestellt worden wäre, dass sie nur alle zehn Tage an eine Person schreiben dürfte. Wenn sie nicht gerade im Unterricht (homeschooling!) sitzt, kommen und gehen die Nachrichten beinahe im Sekundentakt. So kommt es mir wenigstens vor!

Dietrich Bonhoeffer sehnt sich nach seinen Eltern, wohl aber noch mehr nach Kontakt zu seinem besten Freund Eberhard und vielleicht am meisten zu seiner Verlobten Maria, an die er erst in drei Monaten seinen ersten Brief adressieren darf! Solange muss sie ohne direkte Nachricht von ihm bleiben, abgesehen von Grüßen, die die Eltern an sie weiterleiten.

Trotz dieser Sehnsucht nach den geliebten Menschen, traue ich Dietrich Bonhoeffer die Fähigkeit bzw. die innere Freiheit zu, nicht nur warten zu müssen, sondern auch warten zu können.
Zu damaligen Zeiten vielleicht nicht so außergewöhnlich, wie uns das heute vorkommen mag. Warten können spielte eine andere gesellschaftliche Rolle. Heute gilt es vielmehr, nicht zu lange zu warten, sondern der schnellste zu sein.

Tatsächlich fällt mir ein, was ich lange vergessen hatte, dass ich in jungen Jahren auch Brieffreundschaften pflegte. Ja, dass es Beziehungen gab, bei denen ich einem Telefonanruf, der umstandslos möglich gewesen wäre, das Schreiben eines Briefes vorgezogen habe.

Schon lange habe ich keinen „richtigen“ Brief an einen lieben Menschen mehr geschrieben. Es kostet mich einige Mühe mich daran zu erinnern, wie das gewesen ist.

Das Warten auf den Brief, das war das, was einen Großteil des Reizes eines Briefwechsels ausmachte. Das langsame Öffnen und das mehrmalige Lesen, vielleicht sogar über Tage hinweg. Dann das Überlegen und auswählen, was man selbst gerne schreiben würde, was berichtswert wäre oder auf welche Gedanken und Gefühle man gerne eine Resonanz vom Gegenüber erhalten würde. All das verlangte, aus heutiger Sicht, ungeheuer viel Zeit.

Sich viel Zeit nehmen für den anderen? Vielleicht machte gerade das den Zauber und das Geheimnis des Briefeschreibens aus?

Ja, und dann das Schreiben. Vielleicht auf einem besonderen Briefpapier! Natürlich handschriftlich mit der schönstmöglichen Schrift, ohne sich zu oft zu verschreiben. Ohne die nötige Aufmerksamkeit müsste der Brief vielleicht zwei oder dreimal neu aufgesetzt werden! Was für ein Aufwand! Was für ein schöner Aufwand! Und welcher Luxus! Wieviel Hingabe für einen anderen Menschen! Ob ich heute die Geduld für einen solchen Brief aufbrächte? Und nicht doch schnell eine Mail tippen würde?

Heute müsste ich überlegen, wer ein geeigneter Briefpartner sein könnte?  Es müsste jemand sein, der mein Schreiben ebenfalls mit einem Brief beantworten würde und nicht mit einer Sms, Whatsapp oder einem schnellen Anruf mit dem Handy.

Jetzt bin ich abgekommen von meiner Lektüre. Am Anfang stand die Verblüffung über diese einfache Notiz: „Heute ist endlich der 10.Tag wieder da, an dem ich Euch schreiben darf …“  

Was konnte diese Zeitspanne für jemanden bedeuten, der von seinen lieben Menschen getrennt ist. Zehn Tage ohne Nachricht, zehn Tage ohne Nachricht geben zu können! Zehn Tage warten müssen, aber vielleicht auch: Zehn Tage warten können?

Wie lange hat Dietrich Bonhoeffer an diesem Brief gesessen und hat sich überlegt, was er seinen Eltern am liebsten schreiben wollte. Welche Mitteilungen wären wichtig für sie? Was müsste er unbedingt loswerden? Oft stehen solche ganz dringenden Dinge noch am Ende eines Briefes. Dietrich Bonhoeffer erwähnt dort einen Teil der Menschen, denen er nicht schreiben durfte, denen er aber unbedingt wissen lassen möchte, dass er an sie denkt und sich mit ihnen verbunden fühlt.

Inzwischen ist der Tag vorübergegangen, und ich hoffe nur, es sieht in Euch ebenso friedlich aus wie in mir; ich habe vieles Gute gelesen und Schöne gedacht und gehofft. Es wäre doch eine große Beruhigung für mich, wenn Maria einmal einen Tag in aller Ruhe bei Euch wäre. Lasst sie und Renate (eine Cousine die Eberhard Bethge heiraten wird) diesen Brief doch lesen! Vor mir liegen immer die kurzen Zeilen von Papa und Ursel (eine Schwester), und ich lese sie immer wieder. Und nun lebt wohl, verzeiht alle Sorge, die ich Euch mache! Grüßt alle Geschwister und ihre Kinder. In großer Liebe und Dankbarkeit grüßt Euch von Herzen Euer Dietrich.


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