Beten in Zeiten der Gefahr (22)

Briefe Dietrich Bonhoeffers vom 9. Januar an Renate und Eberhard Bethge



In unseren Kirchen sitzen wir mit Blick auf das Kreuz mit dem Gekreuzigten So wird Jesus meist dargestellt. Vor wenigen Augenblicken hat dieser Mensch noch gelebt. Das kommt mir manchmal blitzartig in den Sinn, wenn ich vor dem Altar stehe, um die Gebete zu sprechen.

Zum Beispiel die Psalmen aus „unserer“ Bibel, wie sie Jesus selbst gebetet hat, gesprochen in hebräischer Sprache. Natürlich auch das Vaterunser, Worte, die von ihm selbst stammen! Da sind sich sogar die strengen Wissenschaftler einig. Wir hören die Lesungen aus dem „Alten“ Testament, wie wir es meist immer noch nennen. Jesus kannte sie auswendig, hat sie zitiert, ausgelegt, den Menschen in Israel als frohe Botschaft Gottes neu zu Gehör gebracht.

Und jetzt hören wir dieselben Worte, zweitausend Jahre später, in einem anderen Zeitalter, in einer anderen Sprache, in einem anderen Weltteil. Hören wir sie auch als frohe Botschaft von Gottes Ermutigung zu einem erfüllten Leben?

Manchmal stehe ich am Altar vor dem Kreuz, sehe auf die Füße direkt vor mir, zusammengehalten von einem bloßen, riesigen Nagel und erschrecke! Was ist da passiert? Wer ist in der Lage einen Nagel durch die Füße eines Menschen zu treiben? Was geht in diesem Menschen vor? Wie kann er danach weiterleben?

Manchmal fällt es mir schwer das Gebet weiterzusprechen. Mir wird klar, dass dieser Tod kein „Einzelfall“ war und geblieben ist. In dem Augenblick, in dem ich das Vaterunser anstimme, sterben weltweit hunderte Menschen durch die Hand anderer Menschen, nicht weniger grausam als dieser Jesus, vor dessen Kreuz ich in jetzt stehe, auf dessen schmerzhaft verkrümmte Füße ich jetzt sehe! Die Überfülle der „großen“ und „kleinen“ Gewalttaten, auch in unserer nächsten Nähe, überwältigt mich. Ich fühle mich ohnmächtig unter diesem Kreuz.

So ohnmächtig, wie „alle seine Bekannten, die standen von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles (Lukas 23,49)“. Sie konnten diesen Tod nicht verhindern und zunächst ganz und gar nicht verstehen. Ganz bestimmt hat sie diese Erfahrung der Ohnmacht, dem Ausgeliefertsein an ein Geschehen, mit dem sich nicht gerechnet hatten, einige Zeit orientierungslos und handlungsunfähig werden lassen.

Am 23. Januar 1944 schreibt Dietrich Bonhoeffer an Renate und Eberhard Bethge. Er wendet sich zunächst seiner Nichte Renate zu, die ihrem Onkel Dietrich in einem die Abfahrt ihres Mannes Eberhard zu seinem Einsatzort in Italien geschildert hat.

Die junge Frau, die in wenigen Wochen ihr erstes Kind zur Welt bringen wird, sorgt sich um das Schicksal ihres Angetrauten an der Front: „Das Gefühl des Getrenntseins auf unabsehbar lange Zeit ist recht scheußlich, besonders das Gefühl der eigenen völligen Machtlosigkeit allem gegenüber. Ich denke jetzt viel daran, was du uns darüber geschrieben hast. Hoffentlich wird unsere Geduld nicht auch so lange auf die Probe gestellt wie Deine. Aber man hofft ja, dass alles auch nicht mehr lang dauert.

Dietrich Bonhoeffer gesteht seiner Nichte, sich gegenüber der Abfahrt seines engsten Freundes in eine ungewisse Zukunft - paradoxerweise gerade im Kampf gegen die erhofften zukünftigen Befreier – ebenso ohnmächtig zu fühlen: „Es ist ein merkwürdiges Gefühl, einen Menschen, an dessen Ergehen und Schicksal man selbst jahrelang irgendwie sehr beteiligt gewesen ist, eines Tages einer ganz unbekannten Zukunft, der gegenüber man so gut wie ohnmächtig ist, entgegengehen zu müssen.

Dietrich Bonhoeffer wäre nicht Dietrich Bonhoeffer, so denke ich mir kopfschüttelnd, wenn er in dieser persönlichen Erfahrung der Ohnmacht, nicht etwas finden würde, das ihn letztendlich doch nicht der Ohnmacht überlassen würde: „Dieses Bewußtsein der eigenen Ohnmacht, von dem Du, Renate, auch schreibst, hat, finde ich zwei Seiten, es ist beängstigend, aber es ist doch auch irgendwie befreiend. Solange wir selbst das Schicksal eines anderen Menschen mitzugestalten versuchen, werden wir doch letzten Endes die Frage, ob das, was wir tun, auch wirklich zum Besten das anderen ist, nie ganz los, jedenfalls bei allen großen Eingriffen in ein anderes Leben; wenn uns dann plötzlich alle Möglichkeiten, selbst etwas mitzuwirken, abgeschnitten werden, dann steht hinter aller Angst um den anderen doch auch irgendwie das Bewußtsein, dass sein Leben nun ganz in bessere und stärkere Hände gelegt ist. Sich gegenseitig diesen Händen anzuvertrauen, ist wohl die große Aufgabe der kommenden Wochen und vielleicht auch Monate für Euch, für uns.

Wie oft habe ich diesen Absatz gelesen, um zu verstehen, welche Erfahrung Dietrich Bonhoeffer seiner Nichte mitteilen möchte.

Nach und nach kann ich mir vorstellen, dass eine solche Erfahrung des „Ausgeliefertseins“, Jesus im Garten Getsemane die Freiheit und den Mut geben konnte, seinen Weg der Hingabe weiterzugehen, auch bis zu einem möglichen Tod am Kreuz.

Vielleicht konnten diejenigen, die ohnmächtig aus der Ferne diesem grausamen Morden und Sterben zusehen mussten, in ihrer eigenen Erfahrung des „Ausgeliefertseins“, die Freiheit finden, den Weg des Gekreuzigten weiterzugehen, dessen frohe Botschaft weiterzusagen, bis sie einige Jahrhunderte später auch bei mir angekommen ist?

Bei mir, der ich jetzt von Ferne auf diesen hingerichteten Menschen sehe, in der Hoffnung, dass meine Ohnmacht am und unter dem Kreuz nicht das letzte Wort haben wird, weil ich erkennen und erfahren werde, wie Dietrich Bonhoeffer schreibt, dass mein „Leben nun ganz in bessere und stärker Hände gelegt ist“?


Kommentare: 2
  • #2

    Inge Wagner (Samstag, 10 April 2021 12:53)

    Es fällt mir sehr schwer, Ohnmacht als Befreiung zu empfinden trotz der unerschütterlichen(?) Hoffnungsaussicht von Ostern. Glauben ist ein hartes Brot ....

  • #1

    Karola Glenk (Donnerstag, 08 April 2021 19:29)

    Wenn ich diese Zeilen nach Ostern lese, merke ich, wie sehr mich die Osterbotschaft erfüllt! Der Herr ist auferstanden! Diese Worte kamen am Sonntagmorgen als Whatsapp zu mir! Der Tod hat nicht das letzte Wort! Ich merke, wie Dietrich Bonhoeffer sich immer mehr von mir entfernt! Natürlich, wenn ich die schaurigen Bilder aus Brasilien sehe, weiß ich, wie bedrängend der Tod ist! Ob die Osterbotschaft bei meinem eigenen Tod hält, weiß ich nicht! Aber ich hoffe es°