Beten in Zeiten der Gefahr (8)

Brief Dietrich Bonhoeffers vom 3. Juli 1943 an seine Eltern Karl und Paula Bonhoeffer



Der Klang der Kirchenglocken, vielleicht sogar der Klang einer kleinen Klangschale, kommt immer von weit her, so scheint mir, aus der Ferne, von einem anderen Ort, aus einer anderen Zeit. Ich empfinde manchmal beim Lauschen auf das Geläut aus dem Kirchturm ein Gefühl der Zeitlosigkeit, als würde jetzt der strenge Takt der Uhren und ihre Macht über unser Leben – zumindest vorübergehend - aufgehoben.

Gottes Uhren laufen anders – nicht unbedingt langsamer! – diese Einsicht kommt mir regelmäßig in den Sinn, wenn ich an Johann Sebastians Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ denke. Wenn es mir wieder einmal gelingt, mich nach dieser „anderen“ Zeit Gottes auszurichten, dann verläuft mein Leben „irgendwie“ anders, „zeitloser“. Auf jeden Fall „zu-friedener!“

Es ist merkwürdig, was für eine Gewalt die Glocken über den Menschen haben und wie eindringlich sie sein können. Es verbindet sich so vieles aus dem Leben mit ihnen. Alles Unzufriedene, Undankbare, Selbstsüchtige schwindet dahin."

Auch Dietrich Bonhoeffer lässt sich vom Klang der Glocken in eine andere Zeit, ich wage zu sagen, in die „allerbeste Zeit Gottes“ hinüberführen. Die nackte Wirklichkeit seiner Gefängniszelle ist nicht die einzige Wirklichkeit. Oder vielleicht eher so: Die Wirklichkeit der Gefängniszelle ist durchdrungen von der Wirklichkeit der Gegenwart Gottes. Und es sind die Glocken, die ihm diese Wirklichkeit in diesen Augenblicken lebendig werden lassen.

Es sind lauter gute Erinnerungen, von denen man auf einmal als von guten Geistern umgeben ist; als erstes sind es immer stille Sommerabende in Friedrichsbrunn, die mir gegenwärtig werden, dann all die verschiedenen Gemeinden, in denen ich gearbeitet habe, dann die vielen schönen, häuslichen Feste, Trauungen, Taufen, Konfirmationen – morgen wird mein Patenkind konfirmiert! – man kann gar nicht aufzählen, was da lebendig wird.

Unter dem Geläute der Glocken der Gefängniskirche und vielleicht noch anderer Berliner Glocken, die zeitgleich erklingen, werden Dietrich Bonhoeffer in seiner Zelle in dem riesigen Gefängnis die vielen guten Erfahrungen und Erlebnisse seines Lebens bewusst: Die vielen guten Begegnungen, die vielen guten Gespräche, die vielen guten Orte, an denen er gewesen ist, so dicht, dass er sie im Einzelnen gar nicht mehr aufzählen kann, sondern pauschal subsummiert unter den Festen, Trauungen, Taufen und Konfirmationen.

Diese eher unwillkürliche Vergegenwärtigung schenkt ihm „sehr friedliche, dankbare und zuversichtliche Gedanken“. In beinahe jedem Brief kommen Dietrich Bonhoeffer „gute Erinnerungen“ an Begegnungen mit Menschen, nicht nur aus dem weiten Kreis der Familie und Freunde, in den Sinn, die in ihm auch das Gefühl einer tiefen Dankbarkeit wecken. Dazu muss er sich nicht extra die Worte aus Psalm 103, die er auswendig kennt, aufsagen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“

Dietrich Bonhoeffer könnte nun im Gefängnis viel trübsinnigeren Gedanken verfallen, weil es immer noch nicht gelungen ist, Adolf Hitler an seiner mörderischen Politik zu hindern. Er warnte schon 1933, das der Führer zum Verführer werden könnte und forderte „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern selbst dem Rad in die Speichen zu fallen“. Er selbst schwebt jetzt in der Gefahr als „Verschwörer“ enttarnt zu werden. Er wird ja immer wieder zum Verhör geholt.

Ich habe den Eindruck, es sind auch diese durch den Glockenklang geweckten Erinnerungen, die ihn ermutigen diesen gefährlichen Weg weiterzugehen. Er tut es auch um dieser vielen Menschen willen, die ihm „Gutes getan“ haben, durch die ihm ganz konkret Gottes Gnade und Barmherzigkeit erfahrbar wurde. Mitten im Alltag und jetzt in seiner Zelle.

Dietrich Bonhoeffer wird in seiner Einzelzelle bewusst, wie viel seines Lebens sich anderer Menschen verdankt. Und wie sehr dieses „damals“ Erlebte, ihn jetzt in seiner Zeit der Haft begleitet, ja, wie Dietrich Bonhoeffer selbst sagt, wie es „lebendig“ wird, als würde es sich gerade noch einmal ereignen, als wären ihm diese Menschen jetzt ganz nahe, gegenwärtig.

In seinem Brief nennt er diese Wahrnehmung noch „von guten Geistern umgeben“, mehr als ein Jahr später dichtet er dann in der Adventszeit die Worte: „Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben“.

Auf der Seite des Bayrischen Rundfunks kann man sich Glockenklang aus ganz Bayern anhören, unter anderem auch von der Dreieinigkeitskirche!

https://www.br.de/radio/br-heimat/sendungen/zwoelfuhrlaeuten/zwoelfuhrlaeuten110.html

Wer sich für die Geschichte der Glocken weltweit interessiert, der findet hier beinahe unendliche Informationen.

https://welt-der-glocken.de/


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